Herdenimmunität als einziger Weg aus der Krise? Mediziner fordert "kontrollierte Durchseuchung"

Immer wieder Ausgangsbeschränkungen oder das Schweden-Modell: Jede Regierung handhabt die Coronavirus-Pandemie anders. Ein Arzt plädiert für das Zulassen von Infektionswellen.
- Virologen gehen davon aus, dass ein Stillstand der Pandemie erst erreicht ist, wenn 60 bis 70 Prozent der Bevölkerung eine Infektion mit Covid-19 überstanden - und damit auch Antikörper im Blut haben.
- Solange kein Impfstoff zur Verfügung steht, versucht die deutsche Regierung durch Ausgangsbeschränkungen und Abstandsregeln die Ausbreitung von Covid-19 zu verlangsamen.
- Wichtig sei dies vor allem deshalb, damit es nicht wie in Italien oder Spanien zu einer enormen Überforderung des Gesundheitswesens kommt.
Deutschland zählt mit mehr als 161.500 bereits gemeldeten Coronavirus-Infektionen zu den am stärksten von Covid-19 betroffenen Ländern der Welt. Jedoch gelten 123.500 Menschen als wieder vollständig genesen und auch die Todesrate von 3,9 Prozent* ist in der Bundesrepublik verhältnismäßig niedrig verglichen mit Frankreich und Belgien mit über 14 Prozent. Jedoch quält auch hierzulande jeden die Frage: Wann ist die Pandemie endlich überstanden?
Coronavirus in Deutschland: "Kontrollierte Durchseuchung (...) trifft es leider"
Täglich gibt es dazu neue Einschätzungen und Prognosen von Medizinern und Politikern. Wann wirklich wieder ein normaler Alltag möglich wird, kann allerdings niemand mit Sicherheit sagen. In erster Linie hängt das davon ab, wann ein Impfstoff gegen das Coronavirus auf den Markt kommt und / oder wann eine ursächliche Therapie* etwa in Form von Medikamenten für die breite Masse zugänglich ist.
Hans Theiss, Politiker und Professor für Kardiologie im Münchner Klinikum Großhadern, postet regelmäßig auf seinem Instagram-Account, wie er die Coronavirus-Pandemie erlebt und einschätzt. Unter anderem spricht er sich für eine "kontrollierte Durchseuchung" der Bevölkerung aus: "Keiner weiß genau, wann es eine verlässliche Covid-19-Impfung für die breite Bevölkerung geben wird. Wir müssen uns darauf einstellen, dass dies bis nächstes Jahr dauern kann. Das bedeutet, dass wir wohl nicht umhinkommen, eine konstante Infektion der Menschen Schritt für Schritt zuzulassen (den Ausdruck "kontrollierte Durchseuchung" finde ich schrecklich, aber er trifft es leider)", so der Mediziner.
Theiss Meinung stößt auf viel Zustimmung, allerdings erntet er auch negatives Feedback: "Eine sehr schlechte Idee" schreibt eine Userin und unterstreicht ihre Ansicht mit einem unmissverständlichen Emoji.
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Weit unter zehn Prozent der Bevölkerung hat Coronavirus-Antikörper entwickelt
Herdenimmunität ist ein Fachbegriff, der immer häufiger in Zusammenhang mit dem neuartigen Coronavirus genannt wird. Dabei handelt es sich um einen indirekten Schutz vor einer ansteckenden Krankheit, der entsteht, wenn ein Großteil der Bevölkerung bereits immun gegen den Erreger ist - unabhängig davon, ob der Körper nach überstandener Krankheit Antikörper entwickelt hat oder der Schutz durch eine Impfung gegeben ist.
Bis wir eine Herdenimmunität gegen den Covid-19-Erreger Sars-CoV-2 erreicht haben, könnte es allerdings noch sehr lange dauern. Es laufen bereits erste Antikörper-Studien weltweit, die bisher ernüchternde Ergebnisse liefern. In einer groß angelegten kalifornischen Studie konnten nur bei 2,8 Prozent der 3.300 Studienteilnehmer Coronavirus-Antikörper nachgewiesen werden. Und dieses Ergebnis könne man auch auf Deutschland übertragen: "Wir haben im ganz niedrig einstelligen Bereich die Antikörper-Prävalenz", fasst es Christian Drosten, Leiter der Virologie an der Berliner Charité, zusammen.
Mehr Quellen: https://coronavirus.jhu.edu/map.html; https://coronavirus.jhu.edu/data/mortality; www.focus.de; www.ndr.de
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jg
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