„Paukenschlag“: Arbeitszeiterfassung wird in Deutschland Pflicht – auch im Homeoffice
Das Bundesarbeitsgericht hat in einem Grundsatzurteil festgestellt, dass die Arbeitszeiterfassung Pflicht ist – was das für Homeoffice und Vertrauensarbeitszeit bedeutet.
Erfurt – Lieferengpässe und teure Energiepreise infolge der andauernden Kämpfe in der Ukraine belasten in Deutschland Wirtschaft und Verbraucher gleichermaßen. Immer mehr Produzenten müssen ihre Preise weiter anpassen, was sich wiederum negativ auf die Kaufkraft der Kunden auswirkt. Wie extrem die wirtschaftliche Situation derzeit ist, zeigt die Rekord-Inflationsrate in Deutschland, die auch im August 2022 die Marke von sieben Prozent knackt.
Flexible Arbeitszeitmodelle in Gefahr: Die Arbeitszeiterfassung wird Pflicht
Doch neben der wirtschaftlich schwierigen Lage kommt auf Unternehmen, Arbeitgeber und Politik jetzt noch eine weitere, große Herausforderung zu: die Arbeitszeiterfassung. Auslöser für die Debatte ist ein Grundsatzurteil, das das Bundesarbeitsgericht am 13. September 2022 in Erfurt verkündet hat. Die Arbeitszeiten müssen in Deutschland grundsätzlich und systematisch erfasst werden, urteilen die obersten deutschen Arbeitsrichter.
Flexible Arbeitszeitmodelle wie Vertrauensarbeitszeit oder Homeoffice stehen seither auf wackligen Beinen, da sie aus juristischer Sicht nicht zulässig sind, wenn keine digitale oder analoge Erfassung der Arbeitszeit erfolgt. Völlig überraschend kommt das Urteil aus Erfurt nicht. Schon im sogenannten „Stechuhr-Urteil“ hat der Europäische Gerichtshof (EuGH) geurteilt, dass die Arbeitszeit in allen Mitgliedsstaaten erfasst werden muss.
„Paukenschlag“ nach Grundsatzurteil: Experte rät Firmen, rasch zu reagieren
Das deutsche Arbeitsgesetz sieht bisher nur eine Pflicht zur Dokumentation vor, wenn Überstunden oder Sonntagsarbeit geleistet werden. Arbeitsrechtsexperten sprechen von einer „faustdicken Überraschung“ sowie einem „Paukenschlag“. Der Münchner Experte für Arbeitsrecht, Michael Kalbfus, warnt im Gespräch mit dem RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND) vor großen, weitreichenden Folgen für Arbeitnehmer und Arbeitgeber.
Kalbfus ist sich sicher: „Unternehmen, die keine Lösungen zur umfassenden Arbeitszeiterfassung anbieten, befinden sich derzeit in einem rechtswidrigen Zustand.“ Übergangsfristen für eine digitale Stechuhr gebe es nicht, deshalb auch sein Rat: Rasch Lösungen für eine Zeiterfassung in Angriff nehmen – auch, wenn der zeitliche oder technische Aufwand zum Teil erheblich sei. Auch, weil es keine Ausnahmen für Homeoffice oder Telearbeit gebe.
Homeoffice und Arbeitszeiterfassung: Arbeitsrechtler mit düsterer Prognose
Der Arbeitsrechtler befürchtet, dass es „mit der großen Flexibilität im Homeoffice“ vorbei sein könnte. Zumindest, bis es vonseiten der Bundespolitik klare Gesetzesgrundlagen gibt und etwaige technische Voraussetzungen geschaffen sind. In welcher Form man die Arbeitszeit erfasst, geben EuGH und Bundesarbeitsgericht nicht vor, daher sind auch die Möglichkeiten vielfältig. Gerade jetzt werden viele Firmen wohl zunächst Stundenzettel oder Exceltabellen nutzen.
Gerade im Hinblick auf Homeoffice-Möglichkeiten werden wohl aber eher webbasierte oder auch mobile Softwarelösungen sowie in großen Konzernen auch Hardwarelösungen mittelfristig die Zukunft sein, vermuten Experten. Und Berichten von FOCUS ONLINE zufolge ist heutzutage sogar eine Arbeitszeiterfassung per Fingerabdruck möglich. Innerhalb der Facebook-Community stößt das Urteil aus Erfurt auf ein geteiltes Echo.

Facebook-User in Arbeitszeit-Debatte gespalten: Flexibilität sollte möglich sein
Ein Nutzer kommentierte, dass eine Arbeitszeiterfassung in vielen Betrieben sicherlich sinnvoll sei. „Doch gerade im Handwerk ist so etwas Vertrauenssache. So was führt hier zu vielen Problemen.“ Ähnlich sieht es ein anderer Nutzer, der die Arbeitszeiterfassung primär in Pflegeberufen befürworten würde. Viele ähnliche Kommentare zeigen, dass viele Facebook-Nutzer eine Arbeitszeiterfassung nicht grundsätzlich ablehnen, sich in ihren Berufen aber weiter Flexibilität wünschen.
Befürworter der Arbeitszeiterfassung argumentieren, dass nur damit eine engmaschige Kontrolle möglich ist, die es so in flexiblen Arbeitszeitmodellen nicht gibt. „Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser. In meinem langen Arbeitsleben gab es das schon immer“, lautet einer der Kommentare. Dazu ergänzt eine andere Facebook-Userin: „Ich freue mich, da ich dann vielleicht mal nach meinem Vertrag arbeite.“ Ein anderer schreibt: „Erzwungene Überstunden gibt es dann nicht mehr.“
Arbeitszeiterfassung in Deutschland Pflicht: Was auf die Verbraucher zukommt
Das Fazit: Die Meinungen zur Arbeitszeiterfassung in Deutschland gehen zum Teil sehr weit auseinander. Erschwerend kommt dazu, dass es aus gesetzlicher Sicht keine Grundlage für die Arbeitszeiterfassung in Deutschland gibt. Bisher mussten bloß die Stunden an Sonn- und Feiertagen sowie Überstunden erfasst werden. Jetzt ist der Gesetzgeber gefragt, das Grundsatzurteil aus Erfurt in eine Gesetzesform zu gießen.
Unternehmen in Deutschland nimmt das aber nicht aus der Pflicht, schnellstmöglich Lösungen zu finden. Übergangsfristen sind laut dem Urteilsspruch nicht vorgesehen. Erfasst ein Unternehmen die Arbeitszeit seiner Beschäftigten derzeit nicht, befindet es sich in einem sogenannten „rechtswidrigen Zustand“. Ist das der Fall, sind im ersten Schritt die Betriebsräte am Zug, die die Ausgestaltung der Zeiterfassung fordern können. Im zweiten Anlauf sind auch juristische Schritte denkbar.