Worin Wladimir Putin im Ukraine-Krieg richtig lag

Wladimir Putin hat beim Einmarsch in die Ukraine vieles falsch gemacht – aber nicht alles. Daraus gilt es Schlüsse zu ziehen. Auch in Sachen Atomschlag-Gefahr.
- Mehr als ein Jahr nach Beginn des Ukraine-Kriegs ist klar: Wladimir Putin hat sich in vielen Punkten verkalkuliert.
- Allerdings behielt Putin in einigen Teilfragen auch recht - selbst wenn der russische Überfall nicht zu rechtfertigen ist.
- Stephen Walt, US-Kolumnist, erklärt in diesem Kommentar, welche Schlüsse der Westen aus diesem Umstand ziehen sollte.
- Dieser Artikel liegt erstmals in deutscher Sprache vor – zuerst veröffentlicht hatte ihn am 15. Februar 2023 das Magazin Foreign Policy.
Washington, D.C. - Der russische Präsident Wladimir Putin hat vieles falsch gemacht, als er beschloss, in die Ukraine einzumarschieren. Er überschätzte die militärische Stärke seiner Armee. Er unterschätzte die Macht des ukrainischen Nationalismus und die Fähigkeit der unterlegenen ukrainischen Streitkräfte, ihr Land zu verteidigen. Falsch eingeschätzt zu haben scheint er auch die Einigkeit des Westens, die Geschwindigkeit, mit der die NATO und andere der Ukraine zu Hilfe kommen würden, sowie die Bereitschaft und Fähigkeit der energieimportierenden Länder, Sanktionen gegen Russland zu verhängen und sich von seinen Energieexporten zu lösen.
Möglicherweise hat er auch die Bereitschaft Chinas, ihn zu unterstützen, überschätzt. Peking kauft Unmengen russisches Öl und Gas, aber es bietet Moskau keine lautstarke diplomatische Unterstützung oder wertvolle militärische Hilfe. Nimmt man alle diese Fehler zusammen, so ergibt sich eine Entscheidung mit negativen Folgen für Russland, die noch lange nachwirken werden, wenn Putin die Bühne verlassen hat. Wie auch immer der Krieg ausgeht, Russland wird schwächer und weniger einflussreich sein, als es gewesen wäre, wenn es einen anderen Weg gewählt hätte.
Aber wenn wir ehrlich mit uns selbst sind – und in Kriegszeiten ist es wichtig, schonungslos ehrlich zu sein – sollten wir anerkennen, dass der russische Präsident auch in einigen Fragen richtig lag. Nichts davon rechtfertigt seine Entscheidung, den Krieg zu beginnen, oder die Art und Weise der russischen Kriegsführung. Es werden lediglich Aspekte des Konflikts aufgezeigt, in denen sich Putins Einschätzungen bisher bestätigt haben. Wenn man diese Elemente ignoriert, macht man die gleichen Fehler wie er: die Unterschätzung des Gegners und die Fehleinschätzung wichtiger Elemente der Situation.
Was hat Putin im Ukraine-Krieg richtig gemacht?
- 1. Sanktionen: Die Regierung Joe Biden hoffte, dass die Androhung „noch nie dagewesener Sanktionen“ Putin von einer Invasion abhalten würde. Anschließend hoffte sie, dass die Verhängung dieser Sanktionen seine Kriegsmaschinerie strangulieren, Unmut in der Bevölkerung auslösen und ihn zwingen würde, seinen Kurs zu ändern. Putin zog mit der Überzeugung in den Ukraine-Krieg, dass Russland alle Sanktionen, die wir verhängen könnten, überstehen würde - und er hat bis jetzt recht behalten. Der Appetit auf russische Rohstoffe (einschließlich Energie) ist nach wie vor groß genug, um die russische Wirtschaft mit einem nur leichten Rückgang des BIP in Gang zu halten. Die langfristigen Folgen mögen schwerwiegender sein. Doch Putin ging zurecht davon aus, dass Sanktionen alleine den Ausgang des Konflikts noch lange nicht bestimmen würden.
- 2. Rückhalt auch trotz Rückschlägen: Zweitens hat Putin richtig eingeschätzt, dass das russische Volk hohe Kosten in Kauf nehmen würde und dass militärische Rückschläge nicht zu seinem Sturz führen würden. Er mag den Krieg in der Hoffnung begonnen haben, dass er schnell und billig sein würde. Doch spiegelt seine Entscheidung, nach den anfänglichen Rückschlägen weiterzumachen – und schließlich Reservisten zu mobilisieren und weiterzukämpfen –, seine Überzeugung wider, dass der Großteil des russischen Volkes mit seiner Entscheidung einverstanden sein würde und dass er jede aufkommende Opposition unterdrücken könnte. Die Mobilisierung zusätzlicher Truppen mag nach unseren Maßstäben chaotisch verlaufen sein, aber Russland war in der Lage, trotz enormer Verluste große Truppen im Feld zu halten, ohne Putins Machterhalt zu gefährden. Das kann sich natürlich ändern, aber bisher hat er auch in diesem Punkt recht behalten.
- 3. Widerstand im Rest der Welt: Drittens verstand Putin, dass andere Staaten ihre eigenen Interessen verfolgen würden und dass er für sein Handeln nicht überall verurteilt werden würde. Europa, die Vereinigten Staaten und einige andere haben scharf und energisch reagiert. Wichtige Mitglieder des globalen Südens und einige andere bedeutende Länder (wie Saudi-Arabien und Israel) jedoch nicht. Der Krieg hat dem Ansehen Russlands in der Welt nicht gutgetan (wie die deutliche Mehrheit bei der Verurteilung des Krieges in der UN- Generalversammlung zeigt). Doch beschränkt sich der konkrete Widerstand auf eine Untergruppe der Weltnationen.
- 4. Bedeutung des Ukraine-Krieges für den Westen: Das Wichtigste von allem: Putin hat verstanden, dass das Schicksal der Ukraine für Russland wichtiger ist als für den Westen. Es sei darauf hingewiesen, dass es für Russland keineswegs wichtiger ist als für die Ukrainer, die enorme Opfer bringen, um ihr Land zu verteidigen. Putin ist jedoch gegenüber den wichtigsten Unterstützern der Ukraine im Vorteil, wenn es um die Bereitschaft geht, Kosten zu tragen und Risiken einzugehen. Er ist nicht deshalb im Vorteil, weil die westlichen Staats- und Regierungschefs schwach, kleinmütig oder feige sind, sondern weil die politische Ausrichtung eines großen Landes in unmittelbarer Nachbarschaft zu Russland für Moskau immer eine größere Rolle spielen musste als für weiter entfernte Menschen und insbesondere für jene, die in einem wohlhabenden und sicheren Land auf der anderen Seite des Atlantiks leben.
Ukraine-Krieg: Russlands größeres Interesse an der Ukraine - warum Abstimmung so wichtig ist
Diese grundlegende Asymmetrie der Interessen und Motivationen ist der Grund, warum die Vereinigten Staaten, Deutschland und ein Großteil der übrigen NATO-Mitglieder ihre Reaktionen so sorgfältig abgestimmt haben und warum US-Präsident Joe Biden die Entsendung von US-Truppen von vornherein ausgeschlossen hat. Er verstand (richtigerweise), dass Putin der Ansicht sein könnte, das Schicksal der Ukraine sei es wert, mehrere Hunderttausend Soldaten in den Kampf und möglicherweise in den Tod zu schicken. Doch waren und würden die Amerikaner nicht bereit sein, ihre Söhne und Töchter in den Kampf gegen Putin zu schicken.
Es könnte sich lohnen, den Ukrainern bei der Verteidigung ihres Landes mit Milliarden von Dollar zu helfen, aber dieses Ziel war für die Vereinigten Staaten nicht wichtig genug, um ihre eigenen Truppen in Gefahr zu bringen oder das erhebliche Risiko eines Atomkriegs einzugehen. Angesichts dieser asymmetrischen Motivation versuchen wir, Russland zu stoppen, ohne dass sich US-Truppen direkt einmischen. Ob dieser Ansatz funktioniert, steht noch nicht fest.
„Tödlicher Schlag für die regelbasierte Ordnung“? Warum die Ukraine so laut trommelt
Diese Situation erklärt auch, warum die Ukrainer – und ihre lautstärksten Unterstützer im Westen – enorme Anstrengungen unternommen haben, um das Schicksal ihres Landes mit vielen nicht zusammenhängenden Themen zu verknüpfen. Wenn man ihnen zuhört, wäre die russische Kontrolle über die Krim oder einen Teil des Donbass ein tödlicher Schlag für die „regelbasierte internationale Ordnung“, eine Einladung für China, Taiwan zu erobern, ein Segen für Autokraten überall, ein katastrophales Scheitern der Demokratie und ein Zeichen dafür, dass nukleare Erpressung leicht ist und dass Putin damit seine Armee bis zum Ärmelkanal marschieren lassen könnte.
Hardliner im Westen bringen solche Argumente vor, um das Schicksal der Ukraine für uns genauso wichtig erscheinen zu lassen wie für Russland, aber solche Panikmache hält nicht einmal einer flüchtigen Prüfung stand. Der künftige Verlauf des 21. Jahrhunderts wird nicht davon abhängen, ob am Ende Kiew oder Moskau die Gebiete kontrolliert, um die sie sich derzeit streiten, sondern vielmehr davon, welche Länder Schlüsseltechnologien kontrollieren, vom Klimawandel und von politischen Entwicklungen an vielen anderen Orten.
Russischer Atomschlag? Angst ist unangebracht - Auszuschließen ist er aber nicht
Die Anerkennung dieser Asymmetrie erklärt auch, warum nukleare Drohungen nur einen begrenzten Nutzen haben und warum die Angst vor nuklearer Erpressung unangebracht ist. Wie Thomas Schelling vor vielen Jahren schrieb, werden Verhandlungen im Schatten von Atomwaffen zu einem „Wettbewerb der Risikobereitschaft“, da ein nuklearer Schlagabtausch eine so furchterregende Aussicht darstellt. Niemand will auch nur eine einzige Atomwaffe einsetzen, aber die Seite, der ein bestimmtes Thema wichtiger ist, wird bereit sein, größere Risiken einzugehen, vor allem wenn wesentliche Interessen auf dem Spiel stehen.
Aus diesem Grund können wir die Möglichkeit, dass Russland im Falle einer katastrophalen Niederlage eine Atomwaffe einsetzen würde, nicht völlig ausschließen. Und diese Erkenntnis setzt uns Grenzen im Hinblick darauf, wie weit wir bereit sein sollten, die Situation auszureizen. Wiederum nicht, weil die westlichen Staats- und Regierungschefs willensschwach oder feige sind, sondern weil sie vernünftig und umsichtig sind.
Kann Putin den Westen nuklear erpressen? Die Antwort lautet Nein
Bedeutet das, dass wir uns einer „nuklearen Erpressung“ beugen? Könnte Putin solche Drohungen nutzen, um weitere Zugeständnisse in anderen Bereichen zu erreichen? Die Antwort ist nein, denn die Asymmetrie der Motivationen verschiebt sich in unsere Richtung, je weiter er zu gehen versucht.
Stellen Sie sich vor, Putin würde Biden anrufen und sagen, dass er einen Atomschlag durchführen könnte, wenn die Vereinigten Staaten sich weigerten, Alaska an Russland zurückzugeben. Biden würde lachen und ihm sagen, er solle zurückrufen, wenn er nüchtern ist.
Würde Russland versuchen, andere zu Zugeständnissen in Fragen zu zwingen, in denen ihre wesentlichen Interessen betroffen sind, würden seine Forderungen auf taube Ohren stoßen. Stellen Sie sich vor, Putin würde Biden anrufen und sagen, dass er einen Atomschlag durchführen könnte, wenn die Vereinigten Staaten sich weigerten, Alaska an Russland zurückzugeben. Biden würde lachen und ihm sagen, er solle zurückrufen, wenn er nüchtern ist. Die nuklearen Drohungen eines Rivalen sind wenig oder gar nicht glaubwürdig, wenn die Balance der Entschlossenheit in unsere Richtung tendiert. Es sei daran erinnert, dass weder die Vereinigten Staaten noch die Sowjetunion während des langen Kalten Krieges jemals erfolgreich nukleare Erpressung betrieben haben – auch nicht gegenüber nichtnuklearen Staaten –, obwohl sie über enorme Arsenale verfügten.
Ukraine-Krieg: Wird Sorge der USA und Nato um ihren Ruf zum irrationalen Faktor?
Es gibt jedoch eine Möglichkeit, wie sich diese Situation ändern könnte, und das ist kein beruhigender Gedanke. Je mehr Hilfe, Waffen, nachrichtendienstliche Erkenntnisse und diplomatische Unterstützung die Vereinigten Staaten und die NATO der Ukraine zukommen lassen, desto mehr ist ihr Ruf an das Ergebnis gebunden. Das ist ein Grund, warum Präsident Wolodymyr Selenskyj und die Ukrainer immer ausgefeiltere Formen der Unterstützung fordern. Es liegt in ihrem Interesse, den Westen so eng wie möglich an ihr Schicksal zu binden. Ich werfe ihnen das übrigens nicht im Geringsten vor. Das würde ich an ihrer Stelle auch tun.
Obwohl die Auswirkungen auf den Ruf oft übertrieben werden, können solche Bedenken Kriege auch dann am Laufen halten, wenn keine wesentlichen materiellen Interessen auf dem Spiel stehen. 1969 verstand Henry Kissinger, dass Vietnam für die Vereinigten Staaten von geringem strategischen Wert war und dass es dort keinen plausiblen Weg zum Sieg gab. Doch betonte er, dass „die Frage nach der Wichtigkeit Vietnams mit dem Einsatz von 500.000 Amerikanern beantwortet ist. Denn jetzt geht es um das Vertrauen in die amerikanischen Versprechen.“
Aus dieser Überzeugung heraus setzten er und Präsident Richard Nixon die Beteiligung der USA am Krieg für weitere vier Jahre fort, auf der vergeblichen Suche nach einem „Frieden mit Ehre“. Die gleiche Lektion könnte für die Entsendung von Abrams-Panzern oder F-16 in die Ukraine gelten: Je mehr Waffen wir bereitstellen, desto stärker sind wir eingebunden. Leider wird es schwieriger, Kriege zu beenden, und eine Eskalation wird wahrscheinlicher, wenn beide Seiten der Meinung sind, dass ihre wesentlichen Interessen es erfordern, dem Gegner eine entscheidende Niederlage zuzufügen.
Ich möchte es noch einmal sagen. Nichts davon legt nahe, dass es richtig war, dass Putin den Krieg begonnen hat, oder dass es falsch ist, dass die NATO der Ukraine hilft. Aber Putin hat sich nicht in allem geirrt, und die Erkenntnis, was er richtig gemacht hat, sollte das weitere Vorgehen der Ukraine und ihrer Unterstützer in den kommenden Monaten bestimmen.
Von Stephen M. Walt
Stephen M. Walt ist Kolumnist bei Foreign Policy sowie Robert and Renée Belfer Professor of International Relations an der Harvard University. Twitter: @stephenwalt
Dieser Artikel war zuerst am 15. Februar 2023 in englischer Sprache im Magazin „ForeignPolicy.com“ erschienen – im Zuge einer Kooperation steht er nun in Übersetzung auch den Lesern der IPPEN.MEDIA-Portale zur Verfügung. *Merkur.de ist ein Angebot von IPPEN.MEDIA.
