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Künast über „absurde“ Hunger-Lage: „Wir müssen unser Ernährungssystem grundsätzlich verändern“

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Von: Andreas Schmid

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Renate Künast (Grüne) spricht bei der Plenarsitzung im Bundestag
Renate Künast (Grüne) fordert eine Senkung der Mehrwertsteuer auf Gemüse, Obst und Hülsenfrüchte und spricht über die weltweite Hungerlage. „Wir haben den Raubbau befördert“ © Bernd von Jutrczenka/dpa (Montage)

Renate Künast spricht im Interview über den globalen Hunger und die „Folgen unserer Ernährung“. Die Mehrwertsteuer für Gemüse und Obst müsse „runter“.

München - Die Weltbevölkerung hungert immer mehr. Laut Angaben der Vereinten Nationen leiden derzeit mindestens 1,6 Milliarden Menschen an einer vielschichtigen Krise aus Krieg, Corona und Klimawandel. Laut Grünen-Politikerin Renate Künast liegt das auch an einem vom Westen geförderten „absurden“ Welternährungssystem. „Wir haben den Raubbau befördert“, sagt die frühere Bundeslandwirtschaftsministerin (2001 bis 2005) im Interview mit Merkur.de von IPPEN.MEDIA.

Gleichzeitig spricht Künast über die „Folgen unserer eigenen Ernährung“ und fordert „unser ganzes Ernährungssystem grundsätzlich zu verändern“. Das gelinge auch mit politischen Entscheidungen: „Mehrwertsteuer runter bei Gemüse, Obst und Hülsenfrüchten.“

Frau Künast, Sie sagten zuletzt mit Blick auf die Exportprobleme beim Getreide, man müsse sich die Frage stellen „ob sich das Welternährungssystem nicht in einer Schieflage befindet“. Wie beantworten Sie diese Frage?

Natürlich befindet es sich in einer Schieflage. Der Ukraine-Krieg hat schonungslos aufgezeigt, dass wir über die Zusammenhänge der weltweiten Versorgungslage sprechen müssen. Länder in Ostafrika, wo beispielsweise Kichererbsen angebaut wurden, sind heute abhängig von der Weizenernte in der Ukraine und in Russland. Es ist geradezu absurd. Und dann kommen gleichzeitig noch weitere Probleme hinzu.

Welche konkret?

Die Klimakrise ist längst Realität, wir sind mittendrin. Außerdem nutzen wir manche Regionen für unsere Ernährung. Dafür, dass wir ganzjährig Erdbeeren oder Tulpen in den Geschäften haben. Wir leben in einer unfairen internationalen Arbeitsteilung: Wir haben uns viel zu wenig darum gekümmert, welche Auswirkungen die Klimakrise und unsere Art zu wirtschaften auf andere Regionen hat. Wir haben den Ländern nicht geholfen, eine eigene Landwirtschaft aufzubauen, sondern haben den Raubbau an Mensch und Natur befördert. Der Ukraine-Krieg zeigt aber auch uns unverblümt die Folgen unserer eigenen Ernährung auf.

Inwiefern?

Das Obst und Gemüse in unseren Supermärkten wird zu einem großen Teil importiert, etwa aus Spanien. Gleichzeitig wird 60 Prozent des bei uns angebauten Getreides an Tiere verfüttert, um Fleisch und Milch zu produzieren. Zusätzliches Tierfutter wird etwa aus Argentinien oder Südbrasilien importiert. In all dem Überfluss werfen wir zudem etwa ein Drittel aller Lebensmittel weg. Das ist falsch. Wir brauchen eine Pflanzenbaustrategie auch für die tierische Ernährung, aber wir müssen uns schon fragen, wie viele Tiere wir halten wollen. Gerade, wenn wir effizient mit Fläche umgehen wollen. Denn die Konkurrenz um Fläche wird sich in den kommenden Jahren weiter verschärfen. Und wir können uns ja nicht erlauben, dass Menschen hungern. Von der Lebensmittelproduktion hängt wiederum auch unsere individuelle Gesundheit ab.

Renate Künast: „Wir müssen unser ganzes Ernährungssystem grundsätzlich verändern“

Sie haben zuletzt gesagt: „Im Moment produzieren und konsumieren wir viel vom Falschen“. Was machen wir denn konkret falsch?

Bei den älteren Männern sind mehr als 50 Prozent übergewichtig. Die gesetzlichen Krankenkassen geben zweistellige Milliardenbeträge für ernährungsbedingte Erkrankungen aus. Da läuft etwas schief. Ernährungsphysiologisch muss der Fleischkonsum runter, insbesondere bei rotem Fleisch. Weil er nicht gesund ist, was man etwa beim Darmkrebsrisiko sieht. Außerdem konsumieren wir zu viele hoch verarbeitete Lebensmittel, die zu viel Salz, Fett und Zucker enthalten. Dahinter stehen wiederum Monokulturen an Zuckerrohr- und Palmölplantagen. Das Problem: Viele Entwicklungsländer imitieren den westlichen Lebensmittelkurs. Hier hat Europa eine Verantwortung. Wir müssen unser ganzes Ernährungssystem grundsätzlich verändern. Wenn wir das tun, hat das Auswirkungen auf andere Länder.

Das heißt, der einzelne Kunde im Supermarkt hat Einfluss auf die globale Lebensmittelsituation?

Es ist falsch, das auf den einzelnen Konsumenten zu reduzieren. Wir haben eine falsche Ernährungs- und Agrarindustrie zugelassen. Das Problem ist nicht der einzelne Konsument, sondern die gesamte Kette. Wir haben ein Überangebot im Supermarkt bis zum Ladenschluss. Die Konsumenten werden angeregt, möglichst viel zu kaufen. Wir haben viel zu wenig Transparenz am Markt, etwa was die Pestizide betrifft. Die Frage ist also vielmehr: Was wird den Konsumenten am Markt angeboten? Entscheidend ist dabei auch die Außer-Haus-Verpflegung von der Kirmes bis zur Kantine. Dort braucht es mehr regionale und saisonale Angebote, mehr Gemüse.

2013 forderten Sie den Veggie Day. Der fleischlose Tag in Kantinen sollte einmal pro Woche zum Standard werden. Wie blicken Sie neun Jahre später auf diese Idee?

Es hat sich sehr viel getan seither. Berlin hat eine Ernährungsstrategie, auch Bremen ist sehr weit. München oder Nürnberg haben auch die Ernährung im Blick. Andernach ist längst Essbare Stadt. Studentenwerke verändern ihre Mensen so, dass es viel vegetarische oder vegane Kost gibt. Die Bereitschaft, die Außer-Haus-Verpflegung zu verbessern, ist da. Auch bei den Kantinenköchen.

Künast fordert Mehrwertsteuersenkung bei Gemüse und Obst: „Es spricht alles dafür“

Bleiben wir beim Verbraucher: Steigende Lebensmittelpreise sorgen auch in Deutschland für Probleme. Was spricht gegen die Senkung der Mehrwertsteuer auf Gemüse und Obst?

Nichts. Es spricht alles dafür.

Es scheitert also an der FDP?

Ich sage mal so: Wir brauchen noch eine Mehrheit. Allerdings als Teil einer umfassenden Ernährungswende, nicht zur akuten Entlastung.

Kritiker argumentieren, das Gießkannensystem funktioniere nicht. Da auch Reiche profitieren würden, gingen dem Staat wichtige Einnahmen flöten. Die man wiederum für die Unterstützung finanziell Schwacher brauche.

Derzeit braut sich ein „perfect storm“ zusammen. Eine Vielzahl an Krisen wie steigende Treibhausgase oder Artensterben. Wir müssen dazu bereit sein, alle Werkzeuge zu nutzen, die Lage zu verbessern. Durch Steuern können wir da etwas verändern: Das, was am wenigsten negative Auswirkungen auf die Umwelt hat, am wenigsten Treibhausgase produziert und auch noch am gesündesten ist, soll doch eigentlich die besten Bedingungen haben. Das heißt: Mehrwertsteuer runter bei Gemüse, Obst und Hülsenfrüchten. Das gilt für alle Menschen im Land, natürlich haben wir damit auch die finanziell Schwachen im Blick, zumal wir eine umfassende Veränderung durch eine Ernährungsstrategie der Bundesregierung auf den Weg bringen.

Beim „perfect storm“ werden auch die Faktoren Corona, Krieg und Inflation genannt. Hat nicht ein anderer Punkt weitaus mehr Einfluss auf die globale Versorgungslage: Das stetig steigende Bevölkerungswachstum?

Es ist genug Essen für alle Menschen da. Es ist eine Frage der Verteilung. Wir haben leider schon lange Hunger auf der Erde. Das ist aber das Ergebnis vergangener Zeiten und hat mit Bevölkerungswachstum erst einmal nichts zu tun. Es liegt an den Defiziten im gesamten Welternährungssystem. Wenn sich in nicht allzu ferner Zukunft Historikerinnen mit unserer Zeit beschäftigen, dann werden sie die Hände über den Kopf zusammenschlagen und sich fragen, warum die Menschheit das alles so unintelligent gemacht hat. Obwohl sie ja eigentlich wusste, wie man gerechter und nachhaltiger hätte produzieren können.

Interview: Andreas Schmid

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